Die Reportage "Zeit ist Geld"

von Manuela Reichmann (Kommentare: 0)

Die ARTE-Reportage „Zeit ist Geld“ hat mich zur weiteren Reflektion über einen gesunden Umgang mit der Zeit bewogen.

Die Reportage leitet her wie dieses „Messbar machen von Zeit“ entstanden ist und welche Auswüchse das angenommen hat:

Jede verschwendete Minute ein Effizienzverlust

Frauen, die mit Windeln zur Arbeit in der Hähnchenfabrik gehen müssen, weil sie nicht sicher sein können, dass sie innerhalb der erlaubten 7 Minuten den Toilettengang erledigt bekommen. Oder weil der Toilettengang als Pausenzeit zu spürbarem Lohnabzug führt. Und dies ist kein Phänomen von Arbeitsbedingungen in der Dritten Welt, sondern ebenso in Amerika und Europa zu finden.

Arbeiten bis zum Umfallen

Japan hat Karoshi, dem Tod durch Überarbeitung, als mögliche Todesursache anerkannt. Die Opfer sterben an Herzinfarkt, Gehirnblutung, Schlaganfall oder begehen Suizid. 40% der Japaner seien vom Burnout betroffen.

Erklärt werden die massiven Überstunden gerne mit der japanischen Kultur, die dem Wohle der Gemeinschaft, in diesem Falle der Firma, den Vorrang vor individuellen Bedürfnissen gebe.

Die Reportage zeigt sehr schön, was die Mitarbeiter sich alles einfallen ließen, um die neue rigorosere Arbeitszeitpolitik des besorgten japanischen Firmenchefs auszuhebeln. Der Firmenwachdienst hat Mitarbeiter in Flagranti ertappt wie sie mit Taschenlampen weiterhin ihrer Arbeit nachgingen. Sie begründeten ihr Handeln damit, ihre Arbeit ansonsten einfach nicht schaffen zu können. Aus dem Hamsterrad heraus eine für mich sehr nachvollziehbare Begründung. Es hat noch einige Anstrengungen gebraucht, bis die Mitarbeiter einsichtig wurden, dass ihre Arbeitseffizienz unter der Übermüdung leidet und bis sie die vermehrte Familienzeit als Glück empfinden konnten.

Auch in Deutschland wird der Arbeitsdruck immer höher. Ich kenne ausreichend MitarbeiterInnen, die sich nicht selten nach dem abendlichen „Ausstempeln“ wieder zurück an ihren Arbeitsplatz bewegen oder zuhause weiterarbeiten. Nicht umsonst sind auch hier im Land die Burnout-Diagnosen in den letzten Jahren enorm gestiegen.

Meine eigenen leistungsstarken inneren Antreiber

Ich selbst kenne diesen leistungsstarken inneren Antreiber sehr gut, der mich lange Jahre sehr viel Energie und Zeit in meinen Job hat investieren lassen. Egal wie ungesund die Relation zwischen Arbeitspensum und Ressourcen sich entwickelte – meinen Idealismus, Perfektionismus und den Willen, es in jedem Fall irgendwie schaffen zu wollen, konnte ich nur schwer ad acta legen. Der Erschöpfung nahe war jeder abendliche Privattermin Stress. Lieber wollte ich ganz in Ruhe – teilweise bis „in die Puppen“ - meine Arbeit beenden.

Mit zunehmendem Alter war es für mich immer weniger stimmig bis an den Rand der Erschöpfung zu arbeiten. So hat mich die Frage lange begleitet, wie ich engagiert meinen Job machen kann, ohne ständig im Hamsterrad zu rennen und andere Lebensbereiche zu vernachlässigen?

Der Energieverlauf der Jahreszeiten als gesundes Bild von Lebensbalance

Eine wichtige Etappe, gesunde Bilder von Lebensbalance zu integrieren, war für mich die Ausbildung als Naturcoach und Visionssucheleiterin.

 

Mit seinem Jahresverlauf vom Frühling zum Winter, dem permanenten Wechsel von Tag und Nacht, dem Wandel vom Neu- zum Vollmond zeigt uns die Natur einen stetigen Zyklus von Ausdehnung und Ruhe - ein Rhythmus des Lebens, den wir beispielsweise auch in unserem Atemrhythmus, Blutkreislauf und Menstruationszyklus wiederfinden.  

Sich verlässlich um den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu kümmern und Verantwortung zu übernehmen, sind wichtige Fähigkeiten eines Erwachsenen. Allesamt Sommerqualitäten.

Für ein (Arbeits-) Leben in Balance ist es jedoch wichtig, auch den Aspekten der anderen Jahreszeiten Raum zu geben, wenn auch die Schwerpunkte typabhängig sind und sich relativ zur Lebensphase verschieben:   

Die sinkende Energiebewegung des Herbstes, wo es um Reflektion, Rückschau, (Ernte-) Dank für Erreichtes und den Blick auf das Wesentliche geht.

Die Rückzugsenergie des Winters im Nicht-Tun und Sein, dazu einladend, sich im größeren Sinnzusammenhang zu begreifen.

Die aufsteigende Energie des Frühlings, wo spielerisches Ausprobieren, Spontaneität und Kreativität Platz haben.

Dagegen läuft der Motor unserer linearen Wachstumswirtschaft von „schneller, höher, weiter“ fast das ganze Jahr im Sommermodus der totalen Energieausdehnung. Ein Projekt jagt das andere. Wie lange bleiben uns wohl noch die Weihnachtsfeiertage als letzte Bastion der winterlichen Rückzugsenergie? Viele Unternehmen erschöpfen sich und ihre Mitarbeitenden im Aktionismus unserer schnelllebigen Zeit. Die Folge ist Überhitzung, also Burnout.

Was die Hirnforschung dazu zu sagen hat

Dabei weiß man spätestens seit der Hirnforschung wie wichtig Pausenzeiten für unser Gehirn und unser seelisches Gleichgewicht sind. Beim Tagträumen, Schlafen oder Meditieren sind manche Hirnregionen sogar stärker aktiv als beim zielgerichteten Denken. Wenn die äußere Informationsflut fehlt, kann das Gehirn auf einen riesigen Schatz an gespeichertem „inneren Wissen“ zurückgreifen.

Vermutlich kennen Sie die „Aha-Erlebnisse“, wenn die genialen Ideen und einfachen Antworten sich plötzlich beim Spaziergang, unter der Dusche oder im Urlaub zeigen.

Auszeiten und Momente des Nichtstuns stärken das Gedächtnis und fördern Regeneration, Einfallsreichtum und Kreativität. Alles auch wichtige Voraussetzungen für die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens.  

Zeit-Coach Magali Combal verweist in der Reportage auf den französischen Begriff „ré-création“ (v.a. für die Schulhofpause verwendet), der sehr gut beschreibt, um was es geht: in Pausen erschaffen wir uns neu und bauen uns wieder auf.

Die Zeit und ihre Götter: Chronos, Kairos und Äon

Magali Combal fasst die Entwicklung der Zeit wie folgt zusammen: „Unsere heutige Gesellschaft wird von Chronos bestimmt. Aber Chronos war nicht immer so allgegenwärtig. Neben ihm stand Kairos, der Gott des günstigen Zeitpunkts und Äon, der Gott der Rhythmen und Zyklen.“

Unter "Chronos" versteht man jene Zeit, die permanent vergeht, die Chronologie, das Vergehen der (Lebens-) Zeit … das, was wir auch heute noch mit dem Begriff "Zeit" verbinden.

"Kairos" hingegen meint die Gunst der Stunde, den besonderen, entscheidenden, kritischen Augenblick [1].

„Äon“ ist als Knabe überliefert, der ein Brettspiel spielt, das die Abfolge zyklischer Zeitabläufe symbolisiert. Endet das Spiel, werden die Steine neu aufgestellt und ein neues Spiel beginnt. Jedes Spiel (z.B. symbolisch für Tage, Jahreszeiten, Lebenszeit, Generation, Zeitalter, Entwicklungszyklus) hat einerseits eine begrenzte Dauer, andererseits beginnt es immer wieder von vorne …  bis in alle Ewigkeit [2].

Chronos nimmt uns manchmal so in Beschlag, dass wir die richtigen und wichtigen Gelegenheiten verpassen. Wer nach Chronos lebt, wer also nur noch nach der (äußeren) Uhr lebt, fühlt seinen eigenen natürlichen Rhythmus (Äon) nicht mehr. Er hat nie Zeit, ist immer gestresst und wird auf Dauer wohl krank.

Wer allerdings nach Kairos lebt, der hat die Zeit und nimmt sich die Zeit, um den richtigen Zeitpunkt zu erwarten und - auch im richtigen Moment zuzugreifen, sozusagen „die Gelegenheit am Schopfe zu packen“[1].

[1] vgl http://www.kairos.at/kairos.php; [2] Vgl https://anthrowiki.at/%C3%84on

Von Kairos und der geöffneten Tür

Wir Menschen meinen in unserer heutigen Zeit, alles steuern und kontrollieren zu können. Das geht einher mit der Überzeugung, dass wir Menschen alles aus eigener Kraft tun müssen. Wir Tun und Tun und Tun.

Kairos verstehe ich so, dass ich mich ein Stück weit dem Leben anvertraue, an (persönlichen) Entwicklungen zwar dranbleibe, ihnen aber Zeit lasse und wach bin für den Moment, wo sich die richtige Tür für mich öffnet. Gehen muss ich immer noch selbst, aber verbunden mit viel weniger Kraftanstrengung.

Dagegen nehme ich im „Hamsterrad-Modus“ weder mich und meine innere Stimme wahr (d.h. im übertragenen Sinn „meine eigene Tür ist zu“), noch nehme ich irgendwelche Möglichkeiten und Angebote im außen wahr. Die Gefahr ist groß, dass ich an der geöffneten Tür vorbeilaufe, um dann eine andere mühsam selbst aufstemmen zu müssen.

Ein (Arbeits-) Leben in Balance

Unsere Leistungsgesellschaft honoriert nur - im Bild der Jahreszeiten gesprochen - das sommerliche Tun. Das geht schon in unseren Kinderzimmern los, wo das absichtslose Spiel oder auch die vermeintlich unproduktive Langeweile immer weniger Platz haben. Auch das Schulnotensystem spiegelt unser Leistungsdenken und produziert Werte-Kategorien von gut und schlecht.

Es geht mir hier selbstverständlich nicht darum, die produktive Schaffenskraft zu verteufeln. Die Reportage „Zeit ist Geld“ zeigt jedoch eindrücklich und beängstigend, wir krank dieses nur noch auf vermeintliche Effizienz getrimmte System für uns und unsere Gesellschaft ist.

Der Historiker Robert Levine gibt in der Reportage folgendes Fazit: „Wir müssen lernen, die Dinge mit etwas Abstand zu betrachten. Wir müssen auf uns und unseren Körper hören. Wir müssen spüren wie wir mit unserer Zeit umgehen und was wir dabei empfinden. Erst, wenn wir wissen, was uns wirklich wichtig ist, können wir den für uns bestmöglichen Umgang mit der Zeit finden. Diese Erkenntnis kann unser ganzes Leben verändern. Wir können uns vom Zwang befreien, ständig unserer Zeit hinterherzurennen.“

Wie können wir dem Wesentlichen auf die Spur kommen?

Ich erinnere mich noch sehr an meine erste Visionssuche, wo ich nach einer Vorbereitungszeit vier Tage und Nächte alleine in der Natur verbracht habe. Ich war sehr erstaunt wie viel Zeit und Raum so ein Tag hat. Wie kann es sein, dass ich all diese Zeit im Alltag nur mit Arbeit verbringe? Sind die Beziehungen, die ich dabei vernachlässige, nicht viel wesentlicher?

Retreats - ob in der Natur, im Kloster oder in anderen Formen – helfen, sich wieder ganz auf sich zu besinnen, seinen eigenen natürlichen Rhythmus wieder zu spüren und sich wie eine Kompassnadel neu auszurichten. Das ist nicht immer einfach. Denn ohne Ablenkungen gilt es, die eigene Ruhelosigkeit auszuhalten und Themen anzuschauen, die nun zu uns durchdringen können.

Hemmenden Glaubensmustern und Ängsten, die uns fast zwanghaft im Hamsterrad halten, können wir auch durch Coaching oder Therapie auf die Schliche kommen. Manchmal braucht es eine/n SparringspartnerIn im außen, der uns hilft, unsere eigenen lösungsunterstützenden Ressourcen bewusst und verfügbar zu machen.

Es lohnt sich, in welcher Form auch immer man die Spurensuche aufnimmt! Wer will schon sein Leben dauerhaft als Inbegriff eines funktionierenden Zahnrads verbringen?

Umgang mit den Herausforderungen unserer Zeit

Wir leben in einer Welt, die immer schneller, komplexer, unvorhersehbarer und instabiler wird. Was liegt näher als „mitzurennen“, um mitzukommen. Doch das ist ein Trugschluss:

Was es braucht sind Menschen, die aus innerer Ruhe heraus, mit dem Ungewissen umgehen können.

Was es braucht sind Menschen, die Bestehendes in Frage stellen und immer wieder neu schauen, was Wesentlich ist.

Was es braucht sind neue innovative und kreative Ideen, um die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern.

Was es braucht ist nicht nur die Verantwortung für das Eigene, sondern das Mittragen von Verantwortung für das größere Ganze – für die Menschen, die Gesellschaft, die Weltgemeinschaft und unsere Natur.

 

https://www.arte.tv/de/videos/068398-000-A/zeit-ist-geld/

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